55 Jahre Lebenshilfe Oberösterreich „Gemeinsam viel erreicht – und noch mehr vor!“

Die Lebenshilfe Oberösterreich hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1969 zu einer der landesweit größten sozialen Organisationen entwickelt. Der aus einer Elterninitiative entstandene Verein ist eine starke Stimme für Menschen mit Beeinträchtigung. Aus den „Wohnheimen“ wurden Wohnhäuser. „Tagesheimstätten“ sind heute Werkstätten, die sich mit unterschiedlichen Angeboten immer mehr für den Sozialraum öffnen und eng mit Firmen, wie etwa dem Möbelhändler IKEA, zusammenarbeiten. Die Lebenshilfe ist stolz auf diese Entwicklungen. Gleichzeitig gibt es aber noch viel zu tun und es braucht weiterhin die Unterstützung der Gesellschaft und Politik, damit die Begleitung der Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung über den gesamten Lebensbogen auch in Zukunft so gut gewährleistet werden kann.

Den Anstoß für die Gründung der Lebenshilfe OÖ haben Angehörige von Menschen mit Beeinträchtigung gegeben. Eltern, die nicht wussten, was ihre Kinder mit Beeinträchtigung nach der Schule einmal machen sollten, haben sich zusammengetan. 1971 ist die erste Werkstätte in einer Baracke am alten Sportplatz in Vöcklabruck in Betrieb gegangen. 

Seither hat sich viel getan: Die Lebenshilfe OÖ hat sich zu einer der landesweit größten sozialen Organisationen mit über 100 Standorten entwickelt. Menschen mit Beeinträchtigung sind ein großes Stück weiter in die Gesellschaft gerückt. Dass die Lebenshilfe OÖ viel erreicht hat und sich am Weg zur Inklusion etwas getan hat, zeigt sich auch in den Einrichtungen: Vor 55 Jahren herrschte in den Wohnhäusern und Werkstätten der Lebenshilfe ein erzieherischer Ansatz vor. Heute orientiert sich die Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung am personzentrierten Ansatz. 

Personzentriert begleiten bedeutet, eine Person mit all ihren Fähigkeiten, Ressourcen und Träumen in den Mittelpunkt zu stellen, um größtmögliche Selbstbestimmung zu ermöglichen. Entsprechend wurden auch die Begrifflichkeiten geändert: Aus dem ursprünglichen Begriff „Tagesheimstätten“ wurden die Werkstätten, in denen die Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, Beschäftigte, tätig sind. Die Lebenshilfe begleitet Bewohner*innen in Wohnhäusern – es gibt keine Wohnheime mehr.

Bereich Wohnen: Pflegewohnhaus zur Begleitung über den gesamten Lebensbogen

Verein hat Anstoß für Ausbau der Wohnplätze gegeben

Die Lebenshilfe betreibt mit über 600 Wohnplätzen rund 20 Prozent des Gesamtangebots in Oberösterreich. Der starke Angehörigenverein Lebenshilfe OÖ kämpft seit der Gründung für die Schaffung von Wohnplätzen und hat dabei schon viel erreicht. Die Lebenshilfe OÖ hat den Anstoß für das aktuell laufende Programm des Landes Oberösterreich von 2020 bis 2024 zum Ausbau der Wohnplätze von jährlich rund 100 neuen Plätzen, die von den unterschiedlichen Trägern der Behindertenarbeit betrieben werden, gegeben.

„Wir sind uns auch mit der Politik einig, dass es wichtig ist, dass dieses Programm fortgesetzt wird und wir freuen uns, dass es das Bemühen dafür gibt“, sagt Lebenshilfe-Präsident DI Stefan Hutter. Denn die Wohnplätze für Menschen mit Beeinträchtigung in Oberösterreich sind nach wie vor knapp. Ein großer Teil der Babyboomer – der größten Generation – ist noch unversorgt und die jüngere Generation will früher von zu Hause ausziehen und selbstständiger werden. Die jüngeren Elterngenerationen sind auch bereit, früher loszulassen. Dazu Präsident DI Hutter: „Das ist gut so, denn auch Menschen mit Beeinträchtigung haben ein Recht von zu Hause auszuziehen und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.“ Ziel des Vereins Lebenshilfe OÖ ist es, dass jeder Mensch mit Beeinträchtigung zumindest bis zum 40. Geburtstag einen Wohnplatz hat und nicht mehr bei seinen dann bereits betagten Eltern leben muss. 

Notwendigkeit eines Pflegewohnhauses

Neben dem weiteren Ausbau der Wohnplätze ist das zweite Ziel der Lebenshilfe OÖ im Bereich Wohnen, erstmals ein Pflegehaus zu betreiben. „Wir begleiten Menschen mit Beeinträchtigung über den gesamten Lebensbogen und das wollen wir auch weiterhin gewährleisten“, sagt DI Hutter über die Notwendigkeit eines Wohnhauses für die Pflege im letzten Lebensabschnitt. Die Bewohner*innen werden älter und pflegebedürftiger und damit steigt auch der komplexe Pflegebedarf. Unter Pflege werden in der Lebenshilfe Tätigkeiten verstanden, die über die tägliche Körperpflege, wie Hilfe beim Duschen oder Begleitung zur Toilette, hinausgehen und gleichzeitig medizinische Pflege eines Krankenhauses nicht ersetzt. 

In klassischen Pflegeheimen sind Menschen mit Beeinträchtigung nicht richtig aufgehoben. Dazu kommt auch, dass bei Menschen mit Beeinträchtigung der Alterungsprozess bereits früher einsetzt – wir sprechen von Menschen ab 55 Jahren. Wenn Menschen mit hohem Pflegeaufwand in einer normalen Wohngruppe bleiben, werden viele Mitarbeiterressourcen benötigt und Bedürfnisse anderer, mobilerer Bewohner*innen können nicht mehr im selben Ausmaß berücksichtigt werden. In einem Pflegewohnhaus können komplexere Pflegemaßnahmen gebündelt und durch besonders ausgebildete Mitarbeiter*innen bestmöglich durchgeführt werden. 

Bereich Arbeit: Öffnung der Werkstätten und Zusammenarbeit mit Unternehmen

Im Bereich Arbeit hat die Lebenshilfe in den vergangenen Jahren stark an der Öffnung der Werkstätten gearbeitet und Angebote geschaffen, bei denen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung aufeinandertreffen. Die Lebenshilfe betreibt mittlerweile mehrere eigene Shops, Cafés, Hofläden, eine Jausenstation und Anfang November wird in Mondsee ein Weltladen eröffnet. 

„Unsere wichtigste Öffnung ist aber die Zusammenarbeit mit Unternehmen in Form der Integrativen Beschäftigung, wo wir bereits mit über 100 Firmen eine Kooperation haben“, sagt Lebenshilfe-Geschäftsführer Mag. Gerhard Scheinast und nennt als ein sehr erfolgreiches Beispiel die langjährige Kooperation mit dem Möbelhändler IKEA. 

Erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Möbelhändler IKEA

Inklusion ist für den schwedischen Möbelhändler ein ganz wichtiges Thema. Dazu Mag. Marlene Foller, Unit People & Culture Manager bei IKEA Linz Haid: „Die Kooperation mit der Lebenshilfe war für uns einer der ersten Schritte im Store, um mit Menschen mit Beeinträchtigung zusammenzuarbeiten.“ 

Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, die in den Lebenshilfe-Werkstätten in Traun und Linz beschäftigt sind, wechseln sich wochenweise ab und es sind jeweils bis zu fünf Beschäftigte in Begleitung eines Lebenshilfe-Mitarbeiters halbtags von Montag bis Mittwoch bei IKEA Linz Haid. Die Beschäftigten schätzen besonders, dass sie sehr selbstständig in verschiedenen Bereichen in der SB-Halle arbeiten können und bei Bedarf jederzeit einen Ansprechpartner zur Verfügung haben. Sie freuen sich über die gute Aufnahme im Team und die vielen zusätzlichen Leistungen, wie Snacks, Getränke und das Mittagessen, die IKEA zur Verfügung stellt. Annecatrien Niemeijer-Berenst, Market Managerin IKEA Linz Haid, bestätigt das: „Die Beschäftigten der Lebenshilfe werden von den IKEA Mitarbeiter*innen als Teil des IKEA Teams gesehen und haben gute Kontakte im Store geknüpft.“

Für IKEA ist es wichtig sicherzustellen, dass nicht die oder der Einzelne die Integrationsleistung erbringen muss, um dazuzugehören, sondern dass alle von Anfang an dazu gehören. „Das bedeutet für uns natürlich, Strukturen so zu ändern, dass Vielfalt ohne Einschränkungen gelebt und genutzt werden kann. Dabei sind wir dann auch auf Feedback u.a. von der Lebenshilfe angewiesen, wie etwas einfacher/anders/besser gemacht werden kann“, freut sich Mag. Marlene Foller über die „sehr unkomplizierte Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit der Lebenshilfe.“

Niemeijer-Berenst ergänzt: „Wir können die Zusammenarbeit sehr empfehlen, weil sie unglaublich positive Auswirkungen auf die Mitarbeiter*innen und das Teamgefüge hat - sie sehen Inklusion als etwas ganz Selbstverständliches und nicht als etwas Mühsames, das mich bei der Arbeit aufhält.“ Das Feedback von den Kund*innen sei ebenfalls sehr positiv.

Langjährige Forderung „Gehalt statt Taschengeld“

Als große Forderung im Bereich Arbeit fehlt noch immer die Umsetzung von „Gehalt statt Taschengeld“. Es war auch eine der ersten Forderungen der Interessenvertretung (IV), dem Sprachrohr der begleiteten Menschen mit Beeinträchtigung. Die Interessenvertretung ist vergleichbar mit dem Betriebsrat, die Beschäftigten und Bewohner*innen wählen alle vier Jahre auf verschiedenen Ebenen ihre Sprecher*innen. Die Lebenshilfe OÖ hat die Interessenvertretung bereits 2003 und damit lange bevor das Recht auf Mitsprache im OÖ Chancengleichheitsgesetz 2008 gesetzlich verankert wurde, eingeführt. Aktuell stehen Karin Riegler und Roland Öhlinger als die beiden Gesamtsprecher*innen an der Spitze. Die beiden vertreten die Interessen der Kolleg*innen und tauschen sich mit den Sprecher*innen der anderen Träger aus.

Wertschätzung für die Arbeit von Menschen mit Beeinträchtigung

Roland Öhlinger ist seit 1990 in der Lebenshilfe-Werkstätte Wels 2 beschäftigt und arbeitet seit neun Jahren Vollzeit im Rahmen der Integrativen Beschäftigung bei der Firma Kellner und Kunz. „Ich mache die Arbeit sehr gerne, aber ich bekomme dafür nur ein Taschengeld und das ist nicht in Ordnung. Taschengeld bekommen Kinder − ich bin aber ein erwachsener Mann. Alle Menschen mit Beeinträchtigung sollten eine angemessene Bezahlung für ihre Arbeit bekommen. Das hat auch etwas mit Wertschätzung für unsere Arbeit zu tun.“

Geschäftsführer Mag. Gerhard Scheinast unterstreicht die Forderung: „Es ist ein klares Menschenrecht, für Arbeit auch entlohnt zu werden. Es gebe immer noch Menschen, die glauben, Menschen mit Beeinträchtigung bräuchten kein Gehalt, weil ‚sie sind ja eh gut versorgt`. Ja, sie sind bei uns versorgt. Aber Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung werden noch immer nicht als erwachsene Menschen wahrgenommen und das eklatanteste Zeichen dafür ist, dass wir ihnen noch immer Taschengeld statt eines Gehalts geben.“ 

17.10.2024