Fachfrauen für die eigene Meinung

„Willst du noch etwas draußen machen oder lieber nach Hause?“, fragt Katrin Schubert. „Ist mir egal“, antwortet Ingeborg Weinberger. Doch in diese Falle tappt Katrin Schubert nicht: „Mir auch“, schmunzelt sie und sieht Ingeborg Weinberger so lange erwartungsvoll an, bis diese eine Entscheidung trifft. Schließlich will sie ihre Klientin dazu ermutigen, Beschlüsse selbst zu fassen. Und diese Selbstbestimmungs-Übung fängt bei den kleinen Dingen des Lebens an.

Auf die Fähigkeiten vertrauen

Das Vertrauen, dass Ingeborg selbst am besten weiß, was gut für sie ist, wurde ihr schon vom Elternhaus entgegengebracht. Ebenso wie eine große Portion Selbstständigkeit: Haushaltsarbeiten wie Kochen, Bügeln oder Putzen sind für sie eine Selbstverständlichkeit, weil man ihr dieses Potential von Anfang an zusprach.

Ihre Selbstständigkeit stellte die 39-Jährige schon kurz nach dem Kennenlernen mit ihrer mobilen Betreuerin Katrin Schubert im Jahr 2012 unter Beweis. „Wir hatten vereinbart, gemeinsam zu kochen. Als ich zu vereinbarten Zeit eintraf, war der Tisch schon gedeckt und das Schnitzel mit Gemüsereis servierbereit“, erinnert sich Katrin Schubert zurück.

Wünsche in Worte fassen

Diese Autonomie hat die 37-jährige Fach­sozial­betreuerin von Anfang an erkannt und gefördert. Ob es darum geht, die Wohnung umzustellen, Freizeitaktivitäten zu planen oder aktuell eine neue Küche auszusuchen: Immer unterstützt sie Ingeborg dabei, ihre Wünsche selbst zu formulieren anstatt sie zu bevormunden.

„Ingeborg weiß, was sie will. Das erleichtert vieles“, so Katrin Schubert. Da sich Ingeborg sprachlich manchmal schwer tut und nicht jeder sie versteht, übernimmt Katrin dann die Rolle des Sprachrohrs nach außen. Oder sie hilft, Wünsche zu unterstreichen und umzusetzen. Um die Mietwohnung etwa mit einer neue Küche zu bestücken, war anfangs Überzeugungsarbeit bei den Eltern notwendig und eine Vereinbarung zur Ablöse der Küche durch den Vermieter, sollte Ingeborg aus der Wohnung auszieht, wurde schriftlich getroffen.

Voneinander lernen

Auch bei Arztbesuchen, Besorgungen für den Haushalt, Behördengängen, Fensterputzen oder der Müllentsorgung ist Ingeborg froh über die Unterstützung ihrer mobilen Betreuerin. In Sachen Ordnung und Organisation macht ihr allerdings keiner etwas vor. „Da kann ich etwas von Ingeborg lernen“, so Katrin Schubert.

Die beiden etwa gleichaltrigen Damen wissen um die Kompetenzen des jeweils anderen und ergänzen sich gut. „Wir hätten uns nicht besser aussuchen können“, meint Katrin und Ingeborg nickt bekräftigend. Ein eingespieltes kleines Team, das diese außergewöhnlich gute Zusammenarbeit als ganz normal ansieht. Ihr Erfolgsgeheimnis? „Wir mögen uns und sind beide unkompliziert“, enthüllen sie.

Ein Nein akzeptieren

Neun Stunden aufgeteilt auf drei Tage begleitet Katrin Schubert die mobil betreute Klientin, zwei weitere Stunden sind für die Dokumentation vorgesehen. Nach Fixpunkten wie dem Durchsehen der Post planen die Beiden meist spontan weitere Aktivitäten. Dabei sind sie offen für Neues, viel an der frischen Luft unterwegs und probieren gewisse Dinge einfach aus. So etwa Schwimmen, als der Arzt erhöhte Blutzuckerwerte diagnostizierte. Nach zweimaligem Hallenbadbesuch stellte sich jedoch heraus, dass Ingeborg beim Thema Schwimmbad eher eine Therme vor Augen hatte und dass ausgedehnte Spaziergänge und Tanzen – Ingeborg war in dieser Disziplin sogar bei den Special Olympics Sommerspielen am Start – eher den Bewegungsgeschmack treffen.

Aus Höflichkeit läutete Katrin Schubert anfangs immer an der Haustüre. „Katrin Schubert, wo ist dein Schlüssel?“, hob Ingeborg dann die Stimme, wie sie es immer noch vorwurfsvoll tut, wenn ihrem Wunsch nicht entsprochen wird. Für sie war es ärgerlich, extra aufsperren gehen zu müssen und so einigte man sich darauf, dass Katrin selbst die Wohnungstür aufsperrt. Ingeborg erwartet sie dann meist musikhörend am Bett, wenn sie sich nach der Arbeit ausruht. Hat sie abends vor dem vereinbarten Arbeitszeitende von Katrin Schubert das Bedürfnis nach Ruhe, teilt sie das ebenso mit. Mit den Worten „Du hast jetzt frei“, wird Katrin Schubert für den Rest des Tages entlassen. Was anfangs gewöhnungsbedürftig war, ist heute selbstverständlich und die Arbeitszeit wird bei einer anderen Gelegenheit nachgeholt.

Alles zu seiner Zeit

Zusammen mit den anderen mobil betreuten Klienten in Braunau unternimmt Ingeborg Weinberger viel. Gemeinsame Aktivitäten werden bei den zweiwöchigen Teamsitzungen im Aktivshop geplant, welche die zwei mobilen Betreuer immer zusammen mit den fünf Klienten abhalten. Die Wochenenden sind hingegen ausschließlich ihrer Familie gewidmet, die sie jede Woche zu Hause besucht. Selbst geplante Gruppenaktivitäten können sie vom Besuch daheim, der ihr sehr wichtig ist, davon nicht abhalten.

Mehr Einblick erlangen

Nächste anstehende Projekte sind eine eigene Waschmaschine und ein eigener Laptop, auf dem Ingeborg die Doku mitverfassen kann. Ihr ist es wichtig, vollen Einblick über die vorgeschriebene Dokumentation zu haben, die sie ja schließlich unterschreibt. So wird ihr Handlungsspielraum noch weiter ausgedehnt.

„Die Grundlage für eine eigene Wohnung hat Ingeborg schon lange, trotzdem wächst sie jeden Tag noch weiter in ihren Kompetenzen. Jetzt kennen wir uns schon so lange und sie überrascht mich immer wieder aufs Neue“, lobt Katrin Schubert. „Bald wird sie mich nicht mehr brauchen, so selbstständig wie sie ist“, meint Katrin, doch Ingeborg entgegnet entschieden und bestimmt: „Du bleibst bei mir!“.

30.8.2018